1. LSBTI*-WISSENSCHAFTSKONGRESS

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Hans-H. Kotte

„Radikaler Humanismus“

Neben der Rolle Hirschfelds beschreibt Weeks spätere Phasen der homosexuellen Emanzipationsbewegung bis in die 1970er und 1990er Jahre hinein - sie bauten auf Hirschfeld auf und kritisierten mit ihren neuen, soziologisch geprägten Ansätzen gleichzeitig dessen einstige medizinisch-biologistischen Argumentationsmuster auf radikale Weise. Die neuen Sozialen Bewegungen, so Weeks, stellten die Hegemonie der Wissenschaft in Frage. „Das Verhältnis zwischen Wissenschaft und sexueller Gleichberechtigung ist nie unkompliziert und in vielen Hinsichten sehr problematisch“, so Weeks. „Das war es für die Pioniere damals und das ist es heute.“

Hirschfeld war Forscher und Aktivist, der eben davon ausging, dass wissenschaftliches Wissen der Schlüssel zur sexuellen Gleichberechtigung sei. „Per scientiam ad justitiam“, durch Wissenschaft zu Gerechtigkeit, so lautete sein legendärer Wahlspruch. Wissenschaft als „magischer Schlüssel zum sexuellen Wandel und zu sexueller Gleichberechtigung“, wie Weeks es nennt. Der Londoner Soziologe beschreibt die vielfältigen Wurzeln der Sexologie „in der Medizin, Psychiatrie, forensischen Psychologie, Kriminologie und postdarwinistischen Biologie, mit weiteren Beiträgen aus der Anthropologie und Geschichte“. Es sei den Pionieren wie Hirschfeld darum gegangen, „den Einfluss von Vernunft und wissenschaftlichem Verständnis auf einem Gebiet geltend zu machen, das traditionell der Religion, der Moral und dem Strafrecht unterstand“. Wissenschaft sollte die Unterdrückung durch Kirche und Staat zurückdrängen; doch schuf sie, so die späteren Kritiker Hirschfelds, selbst Möglichkeiten der Überwachung, Kontrolle und Verfolgung. Weeks erwähnt unter anderem die „heikle Rolle der Sexologie für die Definition von Fachausdrücken“ sowie ihren „Klassifikationseifer“. Es sei „unbestreitbar, dass sie den normalisierenden Institutionen und den Versuchen, Behandlungen und ,Heilungen’ durchzuführen, mit ihrem Gewicht Seriosität verlieh.“

Weeks zeichnet den Weg der Emanzipationsbewegungen nach - bis hin zu den Debatten um die sogenannte Homo-Ehe und der Entwicklung der Yogyakarta-Prinzipien, den sexuellen Menschenrechten. Es sei wichtig, „die wechselnden Formen zu erkennen, die Konzepte sexueller Gleichberechtigung im Laufe der Zeit angenommen haben. Nur so können wir verstehen, woher wir gekommen sind und wohin wir gehen.“ Den „Kern unserer heutigen Kämpfe“ bilde ein „profunder und radikaler Humanismus, eine Achtung für menschliche Autonomie und Würde und ein Verständnis, wonach Fürsorge, wechselseitige Verantwortung, Solidarität und Liebe beim Streben nach sexueller Gleichberechtigung im Mittelpunkt stehen müssen“.

Zum Schluss geht der Soziologe noch mal auf die Rolle der Wissenschaft ein: „Zu Hirschfelds Zeiten vor hundert Jahren wurde die Last des Strebens nach Gerechtigkeit der Wissenschaft aufgebürdet. Wenn wir in den Jahren, die seitdem vergangen sind, irgendetwas gelernt haben, dann doch dies: dass wir Menschen es sind, die diese Verantwortung zu tragen haben. Wir wissen alle nur zu gut, dass diese menschliche Bürde in vielen Teilen der Welt zu schwer wiegt, um tragbar zu sein. Aber solange wir sie nicht voll und ganz auf uns nehmen, kann es keine sexuelle Gleichberechtigung geben. Sexuelle Gleichberechtigung ist zu einer wesentlichen Herausforderung für unsere Menschlichkeit und für den menschlichen Zusammenhalt geworden.“

Die 4. Hirschfeld-Lecture erscheint auch gedruckt in der von der Bundesstiftung Magnus Hirschfeld herausgegebenen Wallstein-Reihe:
Jeffrey Weeks
Sexuelle Gleichberechtigung
Gender, Sexualität und homosexuelle Emanzipation in Europa
Aus dem Englischen übersetzt von Karin Wördemann
Wallstein Verlag
lieferbar ab 03/2014