1. LSBTI*-WISSENSCHAFTSKONGRESS

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Hans-H. Kotte

Dr. Stefan Micheler

Antwort: Für gleichgeschlechtlich begehrende Menschen und ihre Organisationen hatte Geschichtsschreibung auch eine identitätsstiftende Funktion. Seit den „Pionieren“ im 19. Jahrhundert wurde dabei zumeist auch eine Ahnengalerie prominenter vermeintlich homosexueller Menschen aufgehängt, wie etwa Alexander „der Große“, Christina von Schweden, Friedrich „der Große“ oder Oscar Wilde. In den 1970er Jahren kamen dann mit den mit den während der NS-Zeit nach Paragraph 175 Verfolgten und später mit den mittelalterlichen „Sodomitern“ ganze Gruppen als Ahnen hinzu. Grundlage dieser Ahnengalerie war die Vorstellung, dass es Homosexuelle immer und überall gegeben hätte. Diese Ansätze sind mit Recht durch die Theorie der sozialen Konstruktion der Sexualität seit Mitte der 1980er Jahre nach der Rezeption von Jeffrey Weeks und Michel Foucault als Essenzialismus bezeichnet und verworfen worden, da die Dichotomie Homosexualität-Heterosexualität ein Konstrukt der Moderne ist, das anderen Epochen nicht unreflektiert übergestülpt werden kann. Wenn heutzutage versucht wird, „queere Ahnen“ in der Geschichte zu suchen und zu verorten, schafft man erneut einen Anachronismus. Denn man fällt hier theoretisch in einen Essenzialismus zurück, anstatt Kategorien zu dekonstruieren. Vielmehr sollte man Queer Theory nutzen, um Konstruktionsprozesse in Gegenwart und Geschichte analysieren. Es gibt eine Geschichte (oder Geschichten) des Andersseins, des Jenseitslebens, des Sichandersbegreifens und des Widerstandes gegen herrschende Normen, aber es gibt sicherlich keine „queere Geschichte“.