
Schwere Komplikationen
2012 veröffentlichte der Deutsche Ethikrat seine im Auftrag der Bundesregierung erarbeitete Stellungnahme zur Situation intersexueller Menschen. Er gab Empfehlungen zur medizinischen Behandlung und zum Personenstandsrecht ab. Was von der Stellungnahme insgesamt zu halten ist, darüber wurde bei der Podiumsdiskussion am Freitagabend debattiert. „Was nun?“ - war die Titelfrage, moderiert wurde das Podium von der Hamburger Journalistin Katrin Jäger-Matz.
Nach einer kurzen Einführung in die Stellungnahme des Ethikrats durch Moderatorin Katrin Jäger-Matz begann die Debatte mit einem Beitrag von Heinz-Jürgen Voss, Biologe von der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder). Er sprach von einer „weichen Stellungnahme mit vielen Wenns und Abers“. Und er kritisierte, dass der Ethikrat neueste Forschungen zu den Folgen operativer und hormoneller Eingriffe aus den Jahren 2010 und 2011 nicht berücksichtigt habe. Voss forderte, dass die Praxis der medizinischen Eingriffe an Säuglingen und Kindern, die „schwere und schwerste Komplikationen“ verursachten, sofort beendet werden müsse.
Claudia Kittel von der National Coalition für die Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention in Deutschland erläuterte, welche politischen Anknüpfungspunkte die UN-Konvention bietet. In der Kinderrechtskonvention gebe es allerdings keinen ausdrücklichen Artikel zu Intersex*. Kittel nannte das Diskriminierungsverbot, das Recht auf Leben und bestmögliche Entwicklung sowie den Vorrang des Kindeswohls und das Recht der Kindern auf Partizipation in allen sie betreffenden Angelegenheiten. Darüberhinaus böten auch andere UN-Konventionen Anknüpfungspunkte: so die Antifolterkonvention, die Frauenkonvention und die Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen. Kittel erläuterte auch die Forderungen der National Coalition zu Intersex*: So solle beim Personenstandrecht das Geschlecht bis zum Alter von 18 Jahren offen bleiben; geschlechtszuweisende Operationen ohne Beteiligung der betroffenen Personen dürfe es nicht mehr geben; es müsse zudem mehr Aufklärung über Inter* an Schulen und Universitäten betrieben werden.
Lucie Veith von der Bundesvereinigung Intersexuelle Menschen e.V. forderte, dass „ein Entschädigungsfonds noch in dieser Legislaturperiode kommen muss“. Die Opfer der geschlechtszuweisenden Operationen müssten endlich für das Leid, die Pein und das ihnen genommene Recht entschädigt werden. Zusätzliches Leid, zusätzliche Demütigungen durch jahrelange Prozesse seien den in ihrer Kindheit und Jugend verstümmelten Menschen nicht zuzumuten. Veith lehnt ein „Neugeborenen-Screening“ sowie das frühe Fotografieren und Vermessen der Genitalien der Kinder ab.
Intersex*-Aktivist Simon Zobel wandte sich gegen eine medizinische, pathologisierende „Klassifizierung“ von Intersexuellen. Für sich selbst bevorzugt er den Begriff „mehrwertig geschlechtlich“ und er spricht auch von „Mehrdeutigkeit“. Er wolle nicht „dazwischen“ (inter) sein oder einem von vielen Syndromen zugeordnet werden: „Wir sind alle mehrwertig, einige sind mehrwertiger als andere.“
Ursula Rosen, Lehrerin und Mutter eines intersexuellen Kindes, engagiert sich in einer Eltern-Selbsthilfegruppe. Sie berichtete von ihren Bemühungen, die Schulbuchverlage davon zu überzeugen, das Thema Inter* in die Bücher aufzunehmen. Rosen hat zudem eine Lehrerhandreichung entwickelt - diese empfiehlt einen Gruppenunterricht, an dessen Ende die Kinder eine Wandzeitung produzieren. „Selbst Fünftklässler sagen dann, dass bei geschlechtszuweisenden Behandlungen gewartet werden sollte.“
Das Podium kritisierte einhellig die Passage zu Trans* und Inter* im gerade geschlossenen Koalitionsvertrag. Diese sei sehr kurz und „windelweich“ geraten. Die Passage im Koalitionsvertrag von Union und SPD lautet nämlich:
„Wir verurteilen Homophobie und Transphobie und werden entschieden dagegen vorgehen. Wir werden den „Nationalen Aktionsplan der Bundesrepublik Deutschland zur Bekämpfung von Rassismus, Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus und darauf bezogene Intoleranz“ um das Thema Homo- und Transphobie erweitern. Die durch die Änderung des Personenstandrechts für intersexuelle Menschen erzielten Verbesserungen werden wir evaluieren und gegebenenfalls ausbauen und die besondere Situation von trans- und intersexuellen Menschen in den Fokus nehmen.“